Samstag, 31. Oktober 2015

Pchum Ben

Es ist 2:15 Uhr. Der Wecker klingelt. Ich stehe schlaftrunken auf und ärgere mich darüber, dass ich nicht früher ins Bett gegangen bin. Ich mache mich schnell fertig und will frühstücken gehen. Doch im Haus ist es so verdächtig leise, ich gucke sicherheitshalber nach ob die anderen noch im Land der Träume sind. Natürlich muss ich Recht behalten. Paulina und Paul sind noch schön am schlafen als ich ein Blick in ihre Zimmer werfe. "Verschlafen, Wecker überhört", heißt es nur. Ich nutze die Zeit, in der sich die anderen fertig machen, um Frühstück vorzubereiten. Trotzdem schaffen wir es erst mit dem Frühstück zu beginnen, als wir eigentlich schon los wollten. Das nette frühstücken wurde somit zu "schnell alles runterschlingen".
Um halb 4 schaffen wir es dann aufzubrechen. Wir fahren durch die dunkle Nacht, keine Menschenseele auf den Straßen. Sogar der Verkehr ist zur Abwechslung mal leicht überschaubar, denn er ist gar nicht vorhanden.Wir geben vermutlich ein merkwürdiges Bild ab. Drei Weiße, mit großen Rucksäcken bei sich, die wie besenkt, um kurz vor 4 Uhr, durch die Stadt rasen.
Um 4:10 Uhr kommen wir bei Phary an, natürlich 10 Minuten zu spät. Alle warten nur noch ganz ungeduldig auf uns. Wir stellen nur schnell unsere Fahrräder ab, bringen unsere Taschen rein und nehmen eine Box, gefüllt mit süßem Reis in Form von kleinen Bällchen, Obstsalat und Bonbons, und drei Räucherstäbchen entgegen. Schon geht es los zur nächstgelegenen Pagode.
Auf dem Weg dorthin lasse ich mir noch schnell erzählen was wir denn überhaupt feiern, durch all den Trubel der letzten Woche hatte ich ganz vergessen mich damit zu beschäftigen.

Die Antwort lautet Pchum Ben. Was die genaue Übersetzung ist weiß ich noch immer nicht, da irgendwie alle was anderes sagen und auch das Internet nicht einstimmig ist. Zum Beispiel wurde mir gesagt das "Ben" Reis heißt und "Pchum" süß, also würde es einfach "Süßer Reis" heißen. Aber wurde mir auch gesagt, dass "Ben" soviel wie "einsammeln" bedeutet und "Pchum" ungefähr "sich miteinander treffen" bedeutet. Ich finde beide Übersetzungen würden Sinn machen. Denn man feiert Pchum Ben indem sich ganz viele Leute zusammen treffen und gemeinsam Essen, üblicherweise den süßen Reis, an die Mönche aber auch vor allem an die Verstorbenen spendet bzw. opfert. Denn es heißt, dass die Seelen, die Geister der verstorbenen Verwandten nur ein einziges mal im Jahr zurück zur Erde kehren können und ihre noch lebenden Angehörigen besuchen. Und genau das machen sie zu Zeiten von Pchum Ben. Damit man diese Geister nicht verärgert und sie sich gegen einen kehren opfert man den Reis, betet in den Pagoden und zündet Räucherstäbchen an. Dieses Fest geht jedoch nicht nur einen Tag lang, sondern ganze zwei Wochen. In diesen Wochen kann man jede Nacht, noch vor dem Sonnenaufgang, an einer Zeremonie teilnehmen. So wie wir es an diesem Tag taten.

Wir gehen gemeinsam mit Pharys Familie, Freya, Lina, Moritz und mir unbekannten Menschen in die Pagode. Ich halte mich direkt hinter Phary, denn ich weiß nicht was ich machen muss bzw. was ich auf jeden Fall nicht tun sollte. Sie setzt sich auf den Boden, also setzte ich mich auch auf den Boden. In unmittelbarer Nähe zu ihr. Wir zünden unsere Räucherstäbchen an und stellen sie vor uns. Aber was dann? Ich weiß es nicht und Phary erklärt uns auch nichts, aber nachfragen möchte ich auch nicht. Also sitze ich da, warte und schaue mich in der Pagode um. Überall in der Pagode knien betende Menschen, alle samt haben sie vor sich ihre angezündeten Räucherstäbchen und ihren süßen Reis stehen. Der ganze Raum qualmt nur so vor Räucherstäbchen. Ganz vorne sitzen drei Mönche, die zusammen in ein Mikro singen oder Sprechgesang machen. Man fühlt sich mit der Zeit immer benebelter. Natürlich sind wir die einzigen Weißen im ganzen Raum. Ganz in der Nähe von uns sind ganz viele alte Frauen mit Glatze und weißen Gewändern. Nonnen. Für mich ist es das erste mal, dass ich hier Nonnen sehe. Plötzlich kommt sogar eine zu uns rüber und spricht mit Phary. Sie meint das die Nonne ihre Schwester sei, nachdem die Nonne wieder zu ihrem Platz zurück kehrte gab Phary mir einen DIN-A4 großen Zettel den sie auch selber noch in der Hand hatte. Sie erklärt uns, dass da all ihre Familienmitglieder notiert sind und man nur so für sie beten kann. So habe ich es jedenfalls verstanden. Phary steht auf und geht zu einem anderen Teil der Pagode und vermittelt mir ich solle mitkommen. Auf dem Weg müssen wir um all die sitzenden Menschen herumtänzeln, ich bin ganz darauf konzentriert auch ja nicht über einen Arm, Bein oder Fuß eines Menschen herüberzustreiten. Das wäre nämlich unrein und sehr schlimm für diese Person. Wir kommen bei einem Tisch an, auf dem einige Schalen mit Geld, einige mit Räucherstäbchen und einige mit Zetteln, wie ich auch einen in der Hand halte, standen. Phary spricht wiedermals mit einer Nonne, nimmt mir den Zettel aus der Hand und packt ihn gemeinsam mit ihrem Zettel in die eine Schale, zusätzlich lässt sie noch ein paar Riel-Scheine und Räucherstäbchen da. Das war's. Wozu genau sie jetzt meine Hilfe brauchte ist mir bis heute nicht sehr schlüssig. Wir setzten uns wieder an unseren vorigen Platz. Phary betet und ich wechsele nur Blicke und vereinzelte Worte mit Paulina aus.
Um Punkt 4:30 wird ein Gong geschlagen und alle stehen auf und strömen aus der Pagode heraus. Ich laufe einfach mit dem Strom. Ich frage mich "War das jetzt alles?", doch ich bemerke, die Leute gehen gar nicht nach Hause, sondern zu einem Nachbargebäude. Ich beobachte ob man sich seine Schuhe wieder anziehen kann oder nicht, anscheinend nicht. Barfuß folge ich der Masse. Wir kommen zu einer kleinen Treppe die flankiert von zwei Geisterhäusern ist. Ein Khmer, der anscheinend englisch konnte, sagt uns, wir sollen ein Reisbällchen und ein Räucherstäbchen bei dem Geisterhaus lassen. Gesagt getan. Doch dadurch habe ich Phary aus den Augen verloren. Die einzigen mir bekannten Menschen in Sichtweite waren Paulina und Paul. Sie wissen auch nicht viel mehr darüber was jetzt passiert, aber ich bleibe lieber in ihrer Nähe als ganz alleine herum zu irren. Wir gehen die Treppe hinauf und befinden uns vor einer anderen Pagode. Um die Pagode herum windet sich eine Mauer in Schlangengestalt. Zu allen Seiten ist aber genug Platz um die Pagode zu umrunden. Obwohl es mitten in der Nacht ist und keine Lichter an sind, sieht man dank des Mondes genug. Wir folgen der Masse, plötzlich ertönt wieder der Gong und alle setzten sich einheitlich auf den Boden und beten in die Richtung in der die Person mit dem Gong steht. Wir befinden uns zu diesem Zeitpunkt bei der einen Ecke des Weges bzw. der Pagode. All die sitzenden, betenden Menschen mit dem Mondschein und der Mönchsmusik im Hintergrund wirken so friedlich und beruhigend auf mich. Doch dieser Moment hält nur kurz an, denn plötzlich ertönt wieder der Gong und alle springen auf und laufen los. Ich erfahre von Paul, dass es Brauch ist, dass man die Pagode dreimal umrunden muss. Wir folgen gemächlich der Menschenmasse. Ich beobachte wie Räucherstäbchen und Reisbällchen zu den, in jeder Ecke stehenden Geisterhäusern, gelegt werden. Aber dann bemerke ich noch etwas anderes, sie legen die Reisbällchen nicht nur da ab, sondern auch ringsum auf die Mauer und dann das Beste: Sie werfen die Reisbällchen einfach in den Ecken über alle Köpfe hinweg und über die Mauer. Ich muss sehr verwirrt und ahnungslos, was ich ja tatsächlich bin, aussehen. Fremde Menschen kommen auf uns zu und zeigen uns, wie wir die Reisbällchen zu werfen haben. Dann kommt die Erklärung. Man wirft die Reisbällchen in die dunklen Ecken, da die Geister das Licht meiden und sich deswegen im Dunklen aufhalten. Da für sie der Reis bestimmt ist, macht es nur Sinn den Reis auch dorthin zu werfen wo sie sich befinden. Wir laufen zusammen mit den Kambodschanern unsere drei Runden um die Pagode und werfen vorbildlich den Reis und stecken die Räucherstäbchen zu den Geisterhäusern. Zwischendurch ertönt mehrmals der Gong und die Masse bleibt stehen. Doch nicht wie beim ersten mal setzten sie sich hin und beten sondern bleiben stehen und sobald der zweite Gong ertönt rennen sie los. Auf mich wirkt es wie eine abstrakte Abwandlung von Stop-Tanz, nur das man anstatt zu tanzen rennen muss und zusätzlich zum einfachen stoppen noch beten muss.
Die drei Runden habe ich hinter mich gelegt. Die Masse löst sich auf, einige gehen nach Hause, andere noch in die, gerade umkreiste, Pagode. Ich kann endlich wieder Phary finden. Wir gehen zu ihr und fragen was wir mit den restlichen Bällchen und dem Obstsalat machen sollen. Sie meint, einfach über die Mauer werfen. Also stehen nur noch Paulina, Paul und ich da und werfen Obst und Reis über eine Mauer zu so einer Art Friedhof. Phary fragt uns anschließend ob wir einen Blick in die Pagode werfen wollen. Natürlich wollen wir, wir schleichen uns rein und setzten uns ganz hinten hin. In der Pagode befinden sich wieder nur betende Menschen, größtenteils Mönche. Wir bleiben dort eine Weile sitzen und lassen es auf uns wirken, wieder mal dieses Gefühl der kompletten Harmonie. Nach einer Weile gibt Phary aber zu verstehen, dass es Zeit zum gehen ist, da es nichts neues mehr zu sehen geben wird. Anscheinend bleiben die Mönche den ganzen nächsten Tag um zu beten in dieser Pagode.

@Moritz
Wir gehen zurück zur ersten Pagode und sammeln unsere Schuhe ein Anziehen will ich sie jedoch nicht, denn meine Füße kleben durch die auf dem Boden liegenden und natürlich von mir zertretenden Reisbällchen. Inzwischen geht die Sonne schon auf, die Geister sind wohl somit verschwunden und das Fest ist erstmals vorbei.
Wir gehen noch gemeinsam mit Phary und co. in ein nahe liegendes kambodschanisches Restaurant und trinken einen "Ice Coffee with Milk". Wir haben gerade so noch genug Zeit. Denn dann müssen wir schon los, da es heißt, dass wir um 6:30 auf dem Busbahnhof sein müssen.
Ich glaube jeder von uns Deutschen ist am Ende dieses Festes sehr glücklich hier zu sein und sowas mit erleben zu dürfen. Ich bin es jedenfalls.

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